Individualismus der Aufklärung versus postmoderner Anti-Individualismus

Die Ideale und Errungenschaften der Aufklärung prägten positiv die westliche Gesellschaft. Auch der moderne Individualismus ist ein Kind der europäischen Aufklärung. Er bestimmte nicht nur das Selbstverständnis des modernen Menschen, sondern legte auch Weichen für das rechtliche und politische System. Doch seit geraumer Zeit werden die Ideale der Aufklärung aufgehoben und ihre Errungenschaften rückgängig gemacht. Das gilt auch für den Individualismus.

Im ersten Schritt werde ich eine allgemeine Bestimmung des Individualismus geben. Im Weiteren möchte ich die Grundzüge des Individualismus der Aufklärung erläutern. In einem weiteren Schritt werde ich den Individualismus der Einzigartigkeit und der Selbstverwirklichung behandeln, denn dieser Individualismus zeichnet sich bereits durch den Verzicht auf zentrale aufklärerische Ideale aus. Daraufhin möchte ich mich mit dem Anti-Individualismus der philosophischen Postmoderne auseinandersetzen. Mit diesem Anti-Individualismus ist eine bestimmte Politik verbunden, die abschließend von mir dargelegt wird.

Was ist Individualismus?

Individualismus ist ein Standpunkt, demzufolge der einzelne Mensch, das Individuum, im Mittelpunkt des Interesses steht. Dabei wird das Individuum den Gruppen/Kollektiven vorgeordnet. Es wird als Selbstzweck betrachtet. Es stellt einen Eigenwert dar, der dem Wert von Gruppen höhergestellt ist.

Das Individuum besitzt Grundrechte. Die Aufgabe des Staates ist es, diese Rechte zu schützen. Höchste Ziele des Lebens sind aus individualistischer Sicht das Glücklichsein und die optimale Entfaltung, die Vervollkommnung des Einzelnen. Das Individuum wird dabei als eine Kraft angesehen, die frei ist und ihr Leben selbst gestaltet.

Der Staat soll die Bedingungen schaffen, unter denen das Individuum diese Ziele verwirklichen könnte. Der Staat soll dem Individuum dienen.

Als Individualisierung wird der Prozess der Herausbildung von Individualität bezeichnet. Dieser Prozess kann erstens in der Lebensgeschichte des Einzelnen beobachtet werden und meint die allmähliche Loslösung des Individuums von seinen ursprünglichen, vor allem elterlichen, Bedingungen und sein Heranwachsen zu einer von allen anderen getrennten, selbständigen Größe. Dieser Prozess wird auch als Individuation bezeichnet.

Zweitens meint Individualisierung einen gesellschaftlich-politischen oder kulturellen Prozess, der die Individualität der einzelnen Gesellschaftsmitglieder fördert. Zu einem solchen Prozess gehört die Schaffung von rechtlichen und politischen Grundlagen für die optimale Entfaltung der Individuen.

Der Gegensatz zum Individualismus ist der Kollektivismus, demzufolge das Kollektiv , sei es die Nation, die Ethnie, das Geschlecht, die Klasse dem Individuum übergeordnet ist. Das Individuum soll sich den Interessen des Kollektivs unterordnen.

Der Individualismus der Aufklärung

Obwohl Individualisierungsprozesse im europäischen Kulturkreis bereits in der Antike und im Mittelalter stattfanden, entsteht die für unsere gegenwärtige Situation relevante Form des Individualismus erst in der Neuzeit. Als erste Etappe des neuzeitlichen Individualisierungsprozesses kann der Humanismus der Renaissance, ein Vorläuferprojekt der Philosophie der Aufklärung, betrachtet werden.1

Zentral für den Humanismus ist der Begriff der humanitas. Er bezeichnet die allen Menschen innewohnenden Potentialitäten. Alle Menschen sind hinsichtlich dieser Potentialitäten gleich, jedoch nicht hinsichtlich ihrer Begabungen und Talente. Die humanitas machen das Wesen des Menschen aus, wobei dieses Wesen keine unveränderliche Substanz ist. Der Mensch kann die ihm innewohnenden Potentialitäten verwirklichen, und zwar je nach Individuum auf unterschiedliche Art und Weise. Der Mensch hat die Möglichkeit der ständigen Verbesserung seiner Fähigkeiten, er hat die Möglichkeit der Selbstvervollkommnung.

Das Wesen des Menschen ist demnach etwas Veränderliches und Dynamisches. Der Mensch entwickelt sich im Laufe seines Lebens. Er ist auch in gesellschaftliche und geschichtliche Entwicklungen eingebunden, die ihn beeinflussen. Es ist wichtig, das festzuhalten, denn die philosophische Postmoderne behauptet fälschlicherweise, dass in früheren Epochen, insbesondere in der Renaissance und in der Aufklärung, von einem festen unveränderlichen Wesen des Menschen ausgegangen wird.

Das Individuelle ist im Humanismus der Renaissance kein Gegensatz zu Universellen. Die Potentialitäten, die das Wesen des Menschen ausmachen, sind allen Menschen eigen. Insofern sind sie universell. In diesem Sinne besagt ein Grundsatz des Humanismus, dass in jedem Individuum die ganze Menschheit enthalten ist.

Die Grundgedanken des Humanismus werden in der Philosophie der Aufklärung (18. Jh.) aufgegriffen und weiterentwickelt. Das Ziel der Aufklärung ist es, die durch Überlieferung und Autoritäten vermittelten Überzeugungen und Normen einer kritischen Prüfung zu unterziehen, sie gegebenenfalls zu revidieren und durch andere Überzeugungen und Normen zu ersetzen.2 Diese Prüfung soll sich an der menschlichen Vernunft orientieren. Dafür braucht es ein starkes Konzept vom Individuum.

Immanuel Kant zufolge ist das Individuum in der Lage, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines Anderen zu bedienen. Der Einzelne soll nicht blind den Meinungen anderer folgen, sondern selber denken. Er ist jedoch nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln auf sich selbst gestellt. Er ist dazu in der Lage, sich die Ziele und Prinzipien seines Handelns selbst zu setzen.

Der einzelne Mensch ist kein bloßes Mittel zum Zweck, sondern Zweck an sich, Selbstzweck. Entscheidend für die Bestimmung des Individuums ist nach Kant der Begriff der Würde:

„Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“3

Jeder einzelne Mensch hat einen Wert, der durch nichts ersetzt werden kann. Da allen Menschen Würde zugesprochen wird, sind sie gleichwertig. Daraus resultiert die Gleichheit vor dem Gesetz. Die Gleichheit vor dem Gesetz darf nicht als Uniformität verstanden werden. Sind Menschen nicht gleich vor dem Gesetz, so bedeutet es, dass sie nicht als Individuen, sondern als Repräsentanten von Kollektiven betrachtet werden. Die Kollektivierung schafft Besserbehandlung für bestimmte Gruppen und Schlechterbehandlung für andere Gruppen, Vorrechte für bestimmte Gruppen und Ausschlüsse für andere Gruppen (siehe die Frauenquote). Es gilt daher: „Ohne Gleichheit gibt es keine Individualität.“4

Die Freiheit ist Kant zufolge ein angeborenes Menschenrecht. Es kommt jedem Menschen kraft seiner Zugehörigkeit zur Gattung Mensch zu:

„Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“5

Auch die Freiheit begründet die Gleichwertigkeit aller Menschen und ihre Gleichheit vor dem Gesetz. Der Individualismus der Aufklärung kommt in den folgenden Äußerungen Kants deutlich zum Ausdruck:

„Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zweck nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann (…) nicht Abbruch tut.“6

Dieses Zitat zeigt auch, dass das Individuum nach Kant keine isolierte Größe darstellt, sondern in die Gemeinschaft eingebunden ist. Der einzelne Mensch geht im Handeln über sich selbst hinaus. Die Freiheit ermöglicht es ihm, allgemeingültige Urteile zu fällen und allgemeingültige moralische Gesetze aufzustellen.

Das oberste moralische Gesetz ist das Sittengesetz. Eine Handlung wird als sittlich verstanden, wenn sie nicht aus persönlichen Neigungen, sondern aus Pflicht vollzogen wird. Persönliche Neigungen können niemals allgemein gelten. Im Gegensatz zu einer persönlichen Maxime des Handelns hat das Sittengesetz den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Es ist universell. Es wird von Kant in Form des Kategorische Imperativs auf folgende Weise formuliert:

„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“7

Das Sittengesetz ist ein „Faktum der Vernunft“, das als solches sich unmittelbar kundtut. Man kann es auch so formulieren: Der einzelne Mensch ist in der Lage, allgemeingültige moralische Gesetze aufzustellen, weil er an der allen Menschen gemeinsamen, überindividuellen Vernunft teilhat, sich an ihren universellen Maßstäben und Vorgaben orientiert.

Individualismus und Universalismus bilden in der Philosophie der Aufklärung keinen Gegensatz, sondern ein Junktim. Der Mensch wird in erster Linie als ein Individuum und nicht als Repräsentant eines Kollektivs, sei es eines sozialen Standes oder einer Nation, betrachtet.

Für einen Aufklärer ist das Individuelle wichtiger als das Kollektive, die Gruppenzugehörigkeit. Auf der anderen Seite ist der einzelne Mensch ein Teil der Menschheit. Er teilt mit anderen Menschen universelle Werte und folgt universellen Gesetzen. Er nimmt darüber hinaus an der Menschheitsgeschichte teil und arbeitet für den Fortschritt der menschlichen Gattung. Für den Kollektivismus und den Partikularismus bleibt in der Konzeption der Aufklärung kein Platz.

Der Individualismus der Einzigartigkeit und der Selbstverwirklichung

Seit dem 19. Jahrhundert gewinnt ein anderer Typ des Individualismus immer mehr an Bedeutung. Dabei werden universelle Vernunftmaßstäbe in zunehmendem Maße abgelehnt. Die Einzigartigkeit tritt als das wichtigste Merkmal und der wichtigste Maßstab der Individualität in Erscheinung. Der größte Wert wird auf Unverwechselbarkeit, Andersheit und Besonderheit des Einzelnen gelegt. Sich-von-den-Anderen-unterscheiden und nach Originalität streben sind konstitutive Kennzeichen dieses Individualismus.

Der Einzelne orientiert sich nicht mehr an den Maßstäben einer allen Menschen gemeinsamen, universellen Vernunft, sondern an den eigenen Erlebnissen, Erfahrungen, Stimmungen usw. Sein oberstes Ziel ist es, anders zu sein und in seiner Andersheit bestätigt und anerkannt zu werden.

Diesen Individualismus finden wir in der Romantik des 19. Jahrhunderts. Er zeichnet sich durch die Hervorhebung der Rolle des Ich und die ausdrückliche Betonung des Individuellen in der Kunst aus. Letzteres drückt sich in dem damals propagierten Genie-Kult aus. Darüber hinaus wird das gefühlsmäßige Erleben zum Ort der unverfälschten Ich-Entwicklung und der Wahrheitsfindung.

Im Existentialismus des 20. Jahrhunderts steht die Existenz des einzelnen, konkreten Menschen im Vordergrund des Interesses. Der Einzelne kann seine Existenz nur als je dieser aus sich selbst begreifen. Die Endlichkeit des Einzelnen, sein je eigenes, individuelles Verhältnis zum Tod, das Fehlen eines übergreifenden Sinnes, einer übergreifenden Ordnung und einer übergreifenden, universellen Vernunft sind die Grundpfeiler des Existentialismus.

Im Gefolge der 68er-Bewegung entstand eine neue Form des Individualismus: der Selbstverwirklichungsindividualismus. Seine wichtigsten Merkmale sind: das Streben nach individueller Selbstverwirklichung, Ich-Bezogenheit, permanente Beschäftigung mit sich selbst, vor allem mit den inneren Zuständen und Befindlichkeiten, andauernde Suche nach der eigenen Identität, Narzissmus, Bedürfnis nach Originalität, Neigung zur Selbstdarstellung, Ablehnung der „Masse“, Ablehnung von Autoritäten und hierarchischen Strukturen.

Das Streben nach individueller Selbstverwirklichung ist aufs engste mit der Innenorientierung verbunden: Der Weg der individuellen Selbstverwirklichung geht nach innen. Die innere Wirklichkeit wird gegenüber der äußeren als die fundamentalere betrachtet. Der Einzelne richtet die Außenwelt auf seine Innenwelt aus. Zu ihr gehören Vorstellungen, Gefühle, Wünsche, Stimmungen, „Bauch“, Intuition, Phantasie usw. Die inneren Erfahrungen bilden den eigentlichen Ort der Wahrheit, der Authentizität und der Individualität. Äußere Wirklichkeitsbereiche wie Berufsleben, soziale Beziehungen, Konsum, Kleidung, Wohnen usw. werden an die innere Wirklichkeit angepasst und in den Dienst der Selbstverwirklichung gestellt.8

Im Bereich der sozialen Beziehungen werden feste Bindungen abgelehnt. Oft wird völlige Bindungslosigkeit propagiert. Man sollte in Beziehungen nicht aufgehen und sich nicht einengen lassen. Unverbindlichkeit, Ungebundenheit und hoher Grad an Fluktuation sind die im Selbstverwirklichungsindividualismus herrschenden Merkmale des Beziehungslebens. Diese Haltung führte in den Städten zur Entstehung einer Single-Kultur.

Der Selbstverwirklichungsindividualismus kennt keine universellen Ideale, keine universellen Maßstäbe des Handelns, ihm fehlt die Orientierung an einer universellen Vernunft. Damit hängt zusammen, dass diese Form des Individualismus viele negative gesellschaftliche Folgen nach sich zieht. Der Rückgang des Menschen auf sich selbst, auf die eigene Innenwelt, hat Vereinzelung, Vereinsamung und oft Isolation zur Folge. Eine weitere negative Folge des Selbstverwirklichungsindividualismus ist der geringe Grad an sozialem Engagement. Sich mit sich selbst zu beschäftigen ist „in“, sich für andere Menschen zu engagieren ist „out“. Nicht zuletzt ist der Selbstverwirklichungsindividualismus die wichtigste Ursache für die Geburtenarmut in Deutschland und in der westlichen Welt. Der Einzelne ist mit sich selbst so beschäftigt, dass für ihn Kinder nicht in Frage kommen.

Der postmoderne Anti-Individualismus

Die philosophische Postmoderne ist eine geistesgeschichtliche Strömung, die seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewinnt, und zwar nicht nur in der akademischen Welt, sondern auch in der Politik.Zentral für diese Strömung ist die Dekonstruktion, alsodie Delegitimierung bzw. Außergeltungsetzungvon allgemeingültigen, in der Moderne geprägten Sinn- und Wahrheitsstrukturen. Dies soll anhand von sprachlichen Mitteln, d.h. diskursiv vonstattengehen.

An die Stelle dieser Strukturen treten in der Postmoderne die Differenz (d.h. Unterschiedlichkeit und Andersheit) sowie eine Vielfalt von Perspektiven, Deutungen, Interpretationen, aber auch von Lebensweisen und -entwürfen. Aufgrund dieser Vielfalt sollen Allgemeingültigkeit, Objektivität und Wahrheit dekonstruiert werden. „Wahrheit sei zu einer Frage des momentanen Standpunktes geworden, Wissenschaft das Ergebnis sozialer Aushandlungsprozesse.“9

An die Stelle des universellen Wissens treten lokales, partikulares Wissen, Heterogenität, Kontextualität (Verortung), Diskontinuität, Paradoxie, Ironie usw. Da Sinn- und Wahrheitsstrukturen dekonstruiert werden, entsteht ein Sinnvakuum, das gefüllt werden muss. Die Postmoderne schafft neue Sinngebilde, die jedoch keinen allgemeingültigen Charakter haben. Die Schaffung dieser neuen Sinngebilde, z.B. die Schaffung von Identitäten, wird als Konstruktion bezeichnet. Sie soll sprachlich/diskursiv und sozial vollzogen werden.

Viel ist in der Postmoderne von subjektiven Erfahrungen, von Emotionen und Leiblichkeit die Rede, die der Konstruktion des Selbst und der Welt zugrundeliegen. Dem postmodernen Konstruktivismus zufolge stellt der Mensch sich selbst und die Welt her. Das erweckt den Anschein, als ob die philosophische Postmoderne dem Individuum einen zentralen Wert geben würde.

Nach Michel Foucault hat das Selbst keine feste Identität. Es gibt darüber hinaus keine allgemeingültigen Maßstäbe des Handelns. Der Einzelne muss sein Selbst immer wieder neu erfinden. Es soll – nach dem Vorbild der künstlerischen Produktion – zum Kunstwerk gestaltet werden. Inszenierung des eigenen Selbst, Ästhetisierung der eigenen Existenz, Selbstformgebung und Hervorhebung der Rolle des Körpers sind zentrale Elemente der postmodernen Lebensanschauung. Foucault fordert eine Sorge um sich und betont die Notwendigkeit, an sich selbst zu arbeiten, mit sich selbst zu experimentieren, sich in bestimmten Praktiken zu üben und sich selbst zu formen.10

Um die postmodernistische Dekonstruktion des Individuums zu verstehen, ist es notwendig, zwischen der Subjektivität und der Individualität zu unterscheiden. Postmodernisten wie Foucault haben die Subjektivität im Blick, wenn sie von den vielfältigen Weisen des Selbst und den vielfältigen Weisen der Konstruierung des Selbst sprechen. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht die Zelebrierung von flüchtigen subjektiven Erfahrungen, ohne dabei beim Träger dieser Erfahrungen ein Ich-Konzept, von der Vernunft geleitete Maßstäbe des Handelns und eine vernunftmäßige Überprüfung des Handelns und der Lebensentwürfe vorauszusetzen. Deshalb legen Postmodernisten einen besonderen Wert auf „Grenzüberschreitungen“, außergewöhnliche Erlebnisse und Ekstase, alles gefühlsmäßige, subjektive Phänomene, die sich einer halbwegs objektiven oder nach Kriterien vorgehenden Beurteilung entziehen.11

Die Subjektivität soll zelebriert, die Individualität hingegen dekonstruiert werden. Von den Postmodernisten wird die Vorstellung vom Individuum als einem freien, autonomen Akteur abgelehnt, einem Akteur, der an einer allen Menschen gemeinsamen Vernunft, an allen Menschen gemeinsamen Anlagen und Fähigkeiten teilnehmen würde. Abgelehnt wird ferner die Vorstellung von einem Individuum, der universelle Erkenntnisse machen und universelle moralische Gesetze aufstellen könnte.12

Seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts gewinnen postmoderne Vorstellungen zunehmend in der Gesellschaft und in der Politik an Bedeutung. Heute dominieren sie im gesellschaftlichen und politischen Leben. Das gilt auch für den postmodernen Anti-Individualismus. Er äußer sich in der Politik der Vielfalt/Diversität (engl. „diversity“).

Dabei wird Vielfalt nicht als Vielfalt von Individuen, sondern als Vielfalt von Gruppen/Kollektiven aufgefasst. Die Politik der Diversität basiert auf der Einteilung von Menschen in Kollektive und sie wird im Interesse dieser Kollektive gemacht.

Bei der Kollektivbildung werden Menschen auf ein Merkmal reduziert – z.B. Geschlecht, Hautfarbe, Ethnie – und dieses Merkmal wird als allein oder hauptsächlich relevant erklärt. Auf diese Weise sollen homogene Kollektive konstruiert werden.13 Diese Kollektive werden als besonders benachteiligt eingestuft, woraus die Forderung entsteht, die Angehörigen dieser Kollektive mittels besonderer Maßnahmen, zum Beispiel Quoten, zu fördern oder gar zu bevorzugen. Im Folgenden möchte ich einige Grundzüge der Politik der Diversität, die auch als Identitätspolitik bezeichnet wird, darstellen.

Die postmoderne Politik der Diversität

„Diversity“ bezog sich zunächst und vor allem in den USA auf „Diversity-Management“, das als ein ökonomisches Konzept gilt und die Personalpolitik in Unternehmen betrifft. Im Mittelpunkt dieses Konzepts steht die Auswahl von Personen in Bewerbungsverfahren. Mit seiner Hilfe soll eine adäquate Repräsentation von Bevölkerungsgruppen in der Zusammensetzung der Belegschaft gewährleistet werden. Zu den Gruppenmerkmalen gehören vorwiegend Geschlecht, Ethnie, Hautfarbe, Alter, sexuelle Orientierung, Religion und Weltanschauung. Mittlerweile werden in fast allen großen deutschen Unternehmen Zunehmend Diversity-Programme eingeführt. In diesen Programmen versteht man unter „Diversity“ auch die Vielfalt von Gruppen. Eine Gruppe soll dabei besonders gefördert werden: die Frauen. Dabei geht das „Diversity Management“ eine Verbindung mit einem anderen, verwandten Konzept ein: mit dem Konzept des Gender-Mainstreamings.14

Danach soll die Geschlechterperspektive, genauer: die ergebnisorientierte Gleichstellung von Männern und Frauen, in allen relevanten Bereichen der Gesellschaft berücksichtigt werden. Gender-Mainstreaming wird als eine Querschnittsaufgabe betrachtet. Das Ziel des Gender-Mainstreamings ist nicht Gleichberechtigung im Sinne der Gleichheit vor dem Gesetz und der Herstellung von Chancengleichheit, sondern Gleichstellung der Geschlechter im Sinne von Ergebnisgleichheit. Ein Beispiel dafür ist die Einführung von Geschlechterquoten. Bei der Besetzung von prestigeträchtigen Arbeitsstellen soll im Idealfall das Geschlechterverhältnis 50:50 erreicht werden. In der politischen Praxis bedeutet Gender-Mainstreaming eine Fortentwicklung der Frauenpolitik.Mädchen- und Frauenförderung sowie die paritätische Partizipation von Frauen an gesellschaftlich relevanten Ressourcen bleiben die wichtigsten Eckpfeiler dieser Politik.

„Diversity“ bezieht sich nicht nur auf die Zusammensetzung von Belegschaften in Unternehmen, sondern auch auf die von Organisationen, Institutionen, Gremien usw. Diversity wird wie Gender-Mainstreaming als „Querschnittsaufgabe“ propagiert und somit in alle relevanten Bereiche der Gesellschaft wie Politik, Wissenschaft und Wirtschaft implementiert.

In den politischen Parteien wird Diversity als Vielfalt von Gruppen aufgefasst, zu denen in erster Linie Frauen und Migranten gehören. Zum Beispiel führte die SPD bereits 1988 eine Frauenquote von 40 Prozent bei der Vergabe von Parteiämtern und Mandaten ein. Seit 2011 gibt es dort auch eine Migrantenquote von 15 Prozent für Führungspositionen.15

An fast allen bundesrepublikanischen Universitäten und Hochschulen gibt es Diversity-Programme. Beispielsweise wird im Diversity-Konzept der Frankfurter Goethe-Universität Diversity über die Zugehörigkeit zu folgenden Gruppen bestimmt: Geschlecht, Ethnizität, Religion, Weltanschauung, Alter, soziale Herkunft, sexuelle Orientierung und Behinderung.16

Um das Diversity-Konzept zu verbreiten und umzusetzen, wurde ein bürokratisches System von Maßnahmen geschaffen: Gender-&Diversity-Consulting, Gender-&Diversity-Controlling, Open-Space-Workshops, Training zur Erzeugung von Gender- und Diversity-Kompetenz. Für Studenten unterschiedlicher Religionen wurden auf jedem Campus „Räume der Stille“ eingerichtet, für Studenten mit Handicap gibt es mehrere „Anlaufstellen“, für Studenten mit Migrationshintergrund gibt es lediglich Sprachkurse und ein Mentoring-Programm.

Geschlecht (Gender) wird im Rahmen des Diversity-Konzepts der Frankfurter Universität als „Kerndimension“, also als das wichtigste Gruppenmerkmal, aufgefasst. Demnach werden Maßnahmen zur Frauenförderung gesondert in einem Frauenförderplan 2008–2014 aufgezählt. Die wichtigste Zielvorgabe ist dabei, den Anteil von Frauen auf allen Ebenen (unter Studenten, Stipendiaten, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Professoren) zu erhöhen und die Frauen- und Geschlechtsforschung zu stärken.17

Eine Schlüsselrolle bei der Propagierung und Verbreitung des Konzepts der Diversität spielt die von der bundesdeutschen Regierung mitgetragene Initiative Charta der Vielfalt, eine „Unternehmensinitiative zur Förderung von Vielfalt in Unternehmen und Institutionen“. Und auch hier wird Diversity über die Zugehörigkeit zu Gruppen definiert: Neben Alter, Geschlecht und ethnischer Herkunft/Nationalität sind es auch sexuelle Orientierung, Behinderung, Religion und Weltanschauung.18

Die Politik der Diversität folgt einem kollektivistischen Konzept. Sie stellt einen Rückfall hinter den Individualismus der Aufklärung dar. Vielfalt bedeutet für die zahlreichen Diversity-Programme die Vielfalt von Gruppen in Analogie zur Vielfalt von Arten in der Biologie. Menschen werden demnach nicht nach ihren individuellen Fähigkeiten, Qualifikationen und Leistungen, sondern nach ihrer Gruppenzugehörigkeit definiert, beurteilt und eingestellt.

Das widerspricht dem Prinzip der Bestenauslese, nach dem das bestqualifizierte Individuum die entsprechende Arbeitsstelle erhalten sollte, und zwar unabhängig von seiner Gruppenzugehörigkeit. Das widerspricht ferner dem Gleichheitsprinzip und dem in der Tradition der Aufklärung stehenden und somit individualrechtlich ausgerichteten Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, nach dem Menschen gleich behandelt, d.h. aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit weder benachteiligt noch bevorzugt werden sollten (vgl. Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland).

Die Politik der Diversität ist parteiisch, sie präferiert bestimmte Gruppen vor anderen Gruppen. Sie setzt Partikularinteressen durch. Sie nutzt nur bestimmten Gruppen. Deshalb kann sie als eine Lobby- und Klientelpolitik bezeichnet werden. Die Akteure dieser Politik sind in erster Linie daran interessiert, Macht zu gewinnen und zu erhalten. Darin folgen sie einem weiteren postmodernistischen Grundsatz. Die Postmodernisten schreiben der Macht positive Attribute zu, legitimieren eine Politik, die in der skrupellosen Durchsetzung von Macht besteht. Die Politik reduziert sich für sie letztlich auf Machtgewinnung und -erhaltung.19

Literatur:

1. Erich Fromm, „Humanismus und Psychoanalyse“, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. 9, Rainer Funk (Hrsg.), Stuttgart 1981, S. 3ff.

2. Alexander Ulfig, „Aufklärung“, in: Der., Lexikon der philosophischen Begriffe, Wiesbaden 19992, S. 46.

3. Immanuel Kant, „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, in: Ders., Kants Werke Akademie-Textausgabe Bd. 4, Berlin 1968, S. 434.

4. Hans-Ernst Schiller, Das Individuum im Widerspruch. Zur Theoriegeschichte des modernen Individualismus, Berlin 2006, S. 46.

5. Immanuel Kant, „Metaphysik der Sitten“, in: Ders., Kants Werke Akademie-Textausgabe Bd. 6, Berlin 1968, S. 237.

6. Immanuel Kant, „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, in: Ders., Kants Werke Akademie-Textausgabe Bd. 8, Berlin 1968, S. 290.

7. Immanuel Kant, „Kritik der praktischen Vernunft“, in: Ders., Kants Werke Akademie-Textausgabe Bd. 5, Berlin 1968, S. 30.

8. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, S. 312ff.

9. Klaus-Jürgen Bruder, Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie, Frankfurt am Main 1993, S. 137.

10. Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit Bd. 3, Frankfurt am Main 1984.

11. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992.

12. Klaus-Jürgen Bruder, op. cit. 1993, S. 82f.

13. Heike Diefenbach, „Konstruierte Gruppenidentitäten als Grundlage identitätspolitischen Gedankenguts. Eine Replik aus statistisch-empirischer Sicht“, in: Sandra Kostner (Hrsg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften, Stuttgart 2019, S. 132.

14. Gertraude Krell/Barbara Sieben, „Diversity Management“, in: Peter Massing (Hrsg.), Gender und Diversity, Schwalbach/Ts. 2010, S. 56ff.

15. Veit Medick, „SPD: Gabriel drückt Migrantenquote durch“, Spiegel Online 09.05.2011:

https://www.spiegel.de/consent-a-?targetUrl=https%3A%2F%2Fwww.spiegel.de%2Fpolitik%2Fdeutschland%2Fspd-gabriel-drueckt-migrantenquote-durch-a-761572.html

16. Diversity-Konzept 2011–2014 der Goethe-Universität Frankfurt am Main:

https://www.uni-frankfurt.de/47793325/Diverity-Konzept_Homepage.pdf

17. Frauenförderplan der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M. 2008–2014:

https://www.uni-frankfurt.de/44536690/Mentoring_Frauenfoerderplan_2008.pdf

18. Diversity-Dimensionen“, Charta der Vielfalt e.V. 2006:

https://www.charta-der-vielfalt.de/

19. Alexander Ulfig, „Nihilismus, Postmoderne und skrupellose Machtpolitik“, in: Ders., Wege aus der Beliebigkeit. Alternativen zu Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming, Baden-Baden 2019, S. 35ff.

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