Der Generalverdacht gegen die Aufklärung

Oder: Warum die Dialektik der Aufklärung die Verbreitung der Aufklärung verhinderte

Die Kritische Theorie, auch “Frankfurter Schule“ genannt, gehört zu den einflussreichsten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Ihr programmatisches Werk ist die 1947 von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfasste Dialektik der Aufklärung.

Darin formulieren die beiden Hauptvertreter der Kritischen Theorie ihre folgenreiche Kulturkritik. Ihre Hauptthese lautet: Die Aufklärung schlägt in Gegenaufklärung um; fortschrittliche Ideale werden in ihr Gegenteil verkehrt. Die Aufklärung mündet in Unterordnung, skrupellose Machtausübung und Gewalt – sie mündet letztlich in Faschismus.

Dieser Prozess scheint für Horkheimer und Adorno notwendig zu sein. Somit entsteht ein Generalverdacht gegen die Aufklärung, denn: Warum sollte man sich für die Aufklärung einsetzen, wenn hinter ihr immer die Gegenaufklärung lauert, wenn sie notwendigerweise zur Gegenaufklärung führt?

Die These vom Umschlag der Aufklärung in Gegenaufklärung hatte und hat bis heute einen großen Einfluss auf vor allem intellektuelle und meinungsbildende Kreise in Deutschland. Sie hat das Bild von der Aufklärung hierzulande entscheidend geprägt. Der Generalverdacht gegen die Aufklärung hat somit die Verbreitung ihrer Ideale bis zu einem gewissen Grad verhindert. Davon zeugt der heute herrschende antiaufklärerische, d.h. auch nihilistische und relativistische Zeitgeist. Er tritt in Gestalt der Postmoderne auf.

Im ersten Schritt möchte ich die Grundgedanken der Dialektik der Aufklärung darlegen. In dem darauffolgenden Exkurs werde ich die Ideale der Aufklärung des 18. Jahrhunderts schildern. In einem weiteren Schritt unterziehe ich Horkheimers und Adornos These von dem Umschlag der Aufklärung in Gegenaufklärung einer grundlegenden Kritik. Schließlich werde ich auf einige Ähnlichkeiten zwischen der Kritischen Theorie und der Postmoderne hinweisen.

Die Grundgedanken der Dialektik der Aufklärung

Der Entstehungshintergrund der Dialektik der Aufklärung ist die Erfahrung des Faschismus. Horkheimer und Adorno stellen die Frage, wie angesichts des technischen, aber auch des gesellschaftlichen Fortschritts der Faschismus, also ein Rückfall in die Barbarei, auftreten konnte.

„Was wir uns vorgesetzt haben, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“(1)

Das Auftreten des Faschismus ist jedoch nach Horkheimer und Adorno kein „einmaliger Betriebsunfall der abendländischen Geschichte“.(2) Vielmehr entspringt dieser Vorgang einer bestimmten Denkart, einer bestimmten in der abendländischen Geschichte herrschenden Form der Rationalität. An dieser Stelle tritt der Begriff der Aufklärung auf.

Mit Aufklärung meinen Horkheimer und Adorno demnach nicht nur die geistige und gesellschaftliche Strömung 18. Jahrhunderts, sondern eine bestimmte Denkart, die sich in der Geschichte der Menschheit auf unterschiedliche Weise manifestiert: im Mythos von Odysseus, Luthertum, Calvinismus, Marquis de Sades Immoralismus, in moderner Wissenschaft und der sog. Kulturindustrie.

Die Hauptthese der Dialektik der Aufklärung besagt: Die Aufklärung schlägt in ihr Gegenteil, in die Gegenaufklärung um. Genauer: Die fortschrittlichen Vorhaben der Aufklärung führen zu Ergebnissen, die diesen Vorhaben zuwiderlaufen. In anderen Worten: Es ist in der Struktur der Aufklärung angelegt, dass sie sich in ihr Gegenteil verkehrt. Horkheimer und Adorno beschreiben es folgendermaßen:

„Wir hegen keinen Zweifel …, dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, dass der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.“(3)

Das Umschlagen der Aufklärung in Gegenaufklärung ist ein dialektischer Prozess. Horkheimer und Adorno vertreten eine spezifische Form von Dialektik. Ich möchte sie als paradoxe Dialektik bezeichnen. Freiheit schlägt in Zwang um, Emanzipation in Versklavung, Fortschritt in Rückschritt usw. Warum es sich so verhält, warum darin nach Horkheimer und Adorno eine gewisse Notwendigkeit liegt, vermögen beide Autoren meines Erachtens nicht hinreichend zu klären. Sie beschreiben bestimmte Strukturmerkmale der Aufklärung und gehen davon aus, dass aufgrund dieser Strukturmerkmale die Aufklärung notwendigerweise der oben genannten paradoxen Dialektik folgt.

Bevor ich auf diese Strukturmerkmale genauer eingehe, möchte ich anmerken, dass sich diese Form von Dialektik wesentlich von der Marxschen Dialektik-Konzeption unterscheidet. Dialektik ist nach Marx die Bewegung der sich widersprechenden ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte, insbesondere die Bewegung zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften. Der Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften drückt sich im Kampf zwischen gesellschaftlichen Klassen aus (im Kapitalismus ist es der Kampf zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern). Dialektik ist bei Marx somit als eine Abfolge von Klassenkämpfen zu verstehen, und zwar im Sinne eines Fortschritts, denn am Ende der Geschichte, am Ende der Abfolge von Klassenkämpfen steht die Abschaffung des Privateigentums, die Aufhebung der Ausbeutung und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft.

Kommen wir zurück zur Charakteristik der Strukturmerkmale der Aufklärung, die nach Horkheimer und Adorno eine Grundlage für den dialektischen Umschwung von der Aufklärung zur Gegenaufklärung bilden. Die Aufklärung distanziert sich von der Natur, um sie zum Gegenstand zu machen. Sie macht die Natur zum Objekt, über das man verfügen und das man beherrschen kann.

„Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von Herrschaft.“(4)

Objektivierbarkeit, Verfügbarkeit, Beherrschbarkeit und Berechenbarkeit sind zentrale Ansprüche der Aufklärung. In der Aufklärung und somit in der modernen Wissenschaft konzentriert man sich auf Fakten, auf das, was mit den Mitteln der Wissenschaft empirisch festgestellt werden kann. Diese Haltung wird als Positivismus bezeichnet. Somit verzichtet die Aufklärung Horkheimer und Adorno zufolge auf eine übergreifende Deutung der Welt sowie auf eine Sinngebung. Sie verzichtet ferner auf eine Reflexion auf gesellschaftliche Zusammenhänge, auf das gesellschaftliche Ganze. In anderen Worten: Die Aufklärung thematisiert nicht die Eingebundenheit des Menschen in das gesellschaftliche Ganze, sie thematisiert nicht seine historische, soziale und gesellschaftliche Bedingtheit.

Ein weiteres Merkmal der Aufklärung stellt die Technik dar:

„Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital.“(5)

Die herrschende Form der Vernunft ist dabei die sog. instrumentelle Vernunft. Sie betrachtet die Natur und auch den Menschen nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel (Instrument) zum Zweck. Die MittelZweckRelation ist daher das Grundmerkmal dieser Form von Vernunft. Die instrumentelle Vernunft zielt auf die Beherrschung der Natur und die Unterwerfung des Menschen  ̶  z.B. durch Institutionen – sowie auf seine Manipulation durch die Massenkultur, insbesondere die Massenmedien.

Das Konzept der instrumentellen Vernunft ist zentral für die gesamte Kritische Theorie.(6) Was sich dem Diktat der instrumentellen Vernunft entzieht, hat in der Aufklärung und in der Wissenschaft gewissermaßen keine Existenzberechtigung. Das macht nach Horkheimer und Adorno den totalitären Charakter der Aufklärung aus.

„Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig. Darf sie sich einmal ungestört von auswendiger Unterdrückung entfalten, so ist kein Halt mehr. (…) Aufklärung ist totalitär.“(7)

Viele der obigen Zitate aus der Dialektik der Aufklärung machen deutlich, dass die Aufklärung eine Verstrickung von (instrumenteller) Vernunft und Herrschaft/Macht reproduziert. Horkheimer und Adorno behaupten sogar:

„Macht und Erkenntnis sind synonym.“(8)

Die Aufklärung gipfelt Horkheimer und Adorno zufolge notwendigerweise in totaler Beherrschung, in einem Zustand, in dem alle Verhältnisse durch Macht bestimmt werden. Der Faschismus zeigt, wo eine durch die oben genannten Strukturmerkmale bestimmte Aufklärung endet.

Doch welche Konsequenzen ziehen Horkheimer und Adorno aus der von ihnen vorgenommenen Deutung der Geschichte und der Kultur? Welche Lösungen und Auswege bieten sie?

Eine Konsequenz, die sie daraus ziehen, ist, dass man keine positive Vorstellung des Lebens, einer Ethik und einer Gesellschaftsordnung entwickeln kann. Versuchte man eine solche Vorstellung zu entwickeln und zu realisieren, dann – folgt man der Dialektik der Aufklärung – würde das Gute, das Fortschrittliche irgendwann in sein Gegenteil umschlagen. Konsequenterweise ist es dann nur möglich zu sagen, was nicht das Gute und das Fortschrittliche ist. Möglich ist nur eine negative Einkreisung dessen, was gut und fortschrittlich ist. Der Philosoph Rüdiger Bubner formuliert es auf folgende Weise:

„Die Kritische Theorie hat zum Gegenstand, dass keine Theorie mit Wahrheitsanspruch auftreten könne, und ist darin auch hinsichtlich ihrer selbst konsequent, insofern sie sich strikt an der Aussage durch philosophische Sätze im traditionellen Sinne hindert, und vielmehr, was sie meint, nur an anderen Gegenständen sichtbar zu machen versteht, indem sie deren Unwahrheit zu Bewusstsein bringt.“(9)

Adorno entwickelt daher die Konzeption einer Negativen Dialektik.(10) Sie wendet sich gegen die Herrschaft des Allgemeinen, gegen die Herrschaft des Begriffs, genauer: gegen die Subsumption (Unterordnung) des Einzelnen unter das Allgemeine. Adorno möchte das unmittelbar Gegebene, das Besondere und Individuelle, in seiner Terminologie: das Nichtidentische, zum Ausdruck bringen. Es kann am angemessensten in der Kunst erfahren werden. Das zeigte Adorno in seiner unvollendet gebliebenen Ästhetischen Theorie.(11) Bei Horkheimer treten – insbesondere in seiner Spätphilosophie – zunehmend pessimistische und resignative Züge auf. In der total „verwalteten Welt“ verschwindet Individualität. Die Massenkultur und der Konformismus setzen sich immer mehr durch. Nur in religiösen Erfahrungen kommt noch die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen2 zum Vorschein.(12)

Bevor ich einige Grundgedanken der Dialektik der Aufklärung einer Kritik unterziehe, möchte ich die Ideale der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Erinnerung rufen. Zwar weiten Horkheimer und Adorno den Begriff der Aufklärung auf unterschiedliche geistig-gesellschaftliche Strömungen aus, doch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts spielt für sie eine zentrale Rolle. Schließlich wurde die moderne Wissenschaft samt Technikorientierung zum Vorbild dieser Form von Aufklärung. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat darüber hinaus Ideale hervorgebracht, die bis heute als Inbegriff des Fortschritts gelten. Sie bilden die Grundlage einer Ethik. Horkheimer und Adorno waren wohl besonders daran interessiert zu zeigen, wie sich ausgerechnet diese Ideale in ihr Gegenteil umkehren konnten.

Exkurs: Die Ideale der Aufklärung

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts stellt den Menschen in den Mittelpunkt des Interesses. Er soll als Einzelperson (Individuum) und nicht als Repräsentant von Gruppen, im 18. Jahrhundert als Repräsentant eines sozialen Standes, betrachtet werden. Ferner soll er nicht blind den Meinungen und Dogmen der Autoritäten, sei es staatlicher oder kirchlicher Art, folgen, sondern selbst nachdenken. Der Mensch ist ein autonomes Wesen, d.h. er ist auf sich selbst gestellt und im Denken und Handeln selbständig. Er ist in der Lage, sein Leben selbst zu bestimmen und es selbst zu gestalten. Als einziges Richtmaß gilt ihm dabei die menschliche Vernunft.

Immanuel Kant zufolge ist der Mensch frei. Die Freiheit, genauer: die Freiheit des Willens, ermöglicht es ihm, sich die Zwecke und Prinzipien seines Handelns sowie moralische Gesetze, die auch für andere Menschen verbindlich sein können, zu setzen. Die Freiheit des Willens ist daher die Grundlage der Moral und der Ethik. Da der Mensch mit einem freien Willen ausgestattet ist, ist er ein Handlungssubjekt; er führt Handlungen aus; er ist für seine Handlungen verantwortlich.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat eine starke gesellschaftliche und politische Dimension. Die herrschenden, durch politische und religiöse Autoritäten vertretenen Meinungen und Normen sollen kritisch überprüft und gegebenenfalls – falls sie der Prüfung nicht standhalten – revidiert oder durch andere Meinungen und Normen ersetzt werden. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist deshalb mit einer radikalen Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung (des Feudalismus) und der Religion verbunden. Die Letztere kulminiert nicht selten im Atheismus und in offener Antireligiosität (siehe die Schriften von Paul Henri Thiry d’Holbach).

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zeichnet sich jedoch nicht nur durch eine radikale Kritik an den bestehenden Verhältnissen, sondern auch durch die Suche nach einer anderen, gerechteren Gesellschaftsordnung aus. Zentral ist dabei das Ideal der Gleichheit. Da Menschen nicht nach ihrer Gruppenzugehörigkeit und Abstammung betrachtet werden, sind sie im Prinzip gleich. Jeder Mensch ist qua Menschsein wertvoll. Anders formuliert: Kein Mensch ist mehr wert oder weniger wert als ein anderer Mensch.

Außerdem bezieht sich das Ideal der Gleichheit auf die Gleichheit vor dem Gesetz und im Gefolge der Aufklärung auf die Chancengleichheit sowie darauf, „dass alle Menschen gleichermaßen die Möglichkeit haben sollen, ihre je ´besonderen` eigenen Lebensentwürfe … in Freiheit zu finden und zu verwirklichen.“(13)

Schließlich möchte ich das Ideal der Brüderlichkeit, modern gesprochen: der Solidarität, erwähnen. Das Zusammenleben soll nicht auf Zwang, Unterdrückung und Ausbeutung, sondern auf gegenseitiger Anerkennung, Achtung und Unterstützung beruhen.

Die hier genannten Ideale der Aufklärung können als Grundelemente einer aufklärerischen Ethik betrachtet werden. Kants Moralphilosophie kann als eine prominente Variante einer solchen Ethik aufgefasst werden.(14)

Die Ideale bilden die Grundlage für die Menschenrechtserklärungen. Dort werden universelle, d.h. für alle Menschen geltende, Rechte formuliert, die das Individuum gegenüber dem Staat und anderen Institutionen einfordern kann (z.B. das Recht auf Unversehrtheit der Person, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Religionsfreiheit). Die Ideale der Aufklärung des 18. Jahrhunderts prägen bis heute alle Bereiche unserer Gesellschaft. Kurz: Sie bilden immer noch das Fundament unseres Wertesystems.

Warum die These vom Umschlag der Aufklärung in Gegenaufklärung falsch ist

Nach Horkheimer und Adorno zeichnet sich die Aufklärung des 18. Jahrhunderts durch den „hierarchischen Aufbau der Begriffe“, das „Systematische“ als den „Zusammenhang der Erkenntnis aus einem Prinzip“ und durch die „Einheit“ als „Einstimmigkeit“ aus. Das Denken wird somit als die „Herstellung von einheitlicher, wissenschaftlicher Ordnung und die Ableitung von Tatsachenerkenntnis aus Prinzipien“ bestimmt.(15) Die Vernunft ist das Vermögen, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren (unterordnen). Die Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine und die Systematik als Vereinheitlichung sind demnach zentrale Merkmale der aufklärerischen Vernunft.

Zur Charakteristik der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verwenden Horkheimer und Adorno oft den Begriff „kalkulierendes Denken“.(16) Es handelt sich dabei um einen Begriff, der mit dem der instrumentellen Vernunft verwandt ist. Die Aufklärung möchte alles in Mittel-Zweck-Relation setzen. Sie möchte alles berechnen, messen und für bestimmte Zwecke einsetzen:

„Vernunft ist das Organ der Kalkulation, des Plans, gegen Ziele ist sie neutral, ihr Element ist die Koordination.“(17)

Das bedeutet, dass das kalkulierende Denken auch Ziele verfolgt, die bar jeglicher Moralität oder gar amoralisch sind.

Als ein Vertreter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wird von Horkheimer und Adorno Marquis de Sade betrachtet. Er ist in gewissem Sinne der Vollender der Aufklärung; er denkt sie – in den Augen von Horkheimer und Adorno – konsequent zu Ende. Anders gewendet: Er zeigt, wozu das vollends aufgeklärte Individuum fähig ist.

„Das Werk des Marquis de Sade zeigt den ´Verstand ohne Leitung eines anderen`, das heißt, das von Bevormundung befreite bürgerliche Subjekt.“(18)

Horkheimer und Adorno ziehen eine merkwürdige Parallele zwischen Kant und Sade:

„Die eigene architektonische Struktur des kantischen Systems kündigt wie die Turnerpiramiden der Sadeschen Orgien und das Prinzipienwesen der frühen bürgerlichen Logen – ihr zynisches Spiegelbild ist das strenge Reglement der Libertingesellschaft aus den 120 Journées – die vom inhaltlichen Ziel verlassene Organisation des gesamten Lebens an.“(19)

Begriffliche Hierarchie, Systematik und Einheit des Denkens führen nach Horkheimer und Adorno in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts notwendigerweise zu Herrschaft, skrupelloser Machtausübung und Gewalt. Die positiven, konstruktiven und fortschrittlichen Ideale der Aufklärung wie Freiheit, Autonomie, Gleichheit und Brüderlichkeit wandeln sich in negative, destruktive und rückwärtsgerichtete Kräfte wie Zwang, Unterordnung, Herrschaft und Gewalt.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mündet nach Horkheimer und Adorno – und das bezeugen die Schriften von Sade – in Amoralismus.

Damit ist eine Position gemeint, die die Verbindlichkeit moralischer Normen leugnet. Es gibt keine rationalen Gründe gegen den Inzest, Kinder sollen von ihren Eltern getrennt werden, die Zerstörung der Familie wird somit zur wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe, Gewissenlosigkeit wird zur Tugend, Gewalt bis zum Mord wird propagiert. Als eine Folge der Aufklärung besteht für Horkheimer und Adorno die

„Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundlegendes Argument gegen den Mord vorzubringen.“(20)

Somit wird von dem Aufklärer Sade gedanklich das vorweggenommen und ausgelebt, was im Faschismus zur Realität wurde.

Zusammenfassend kann Folgendes behauptet werden: Für Horkheimer und Adorno schlägt die Aufklärung des 18. Jahrhunderts – wie auch die anderen Formen der Aufklärung – aufgrund ihrer Struktur in Gegenaufklärung um. Bei dieser Form der Aufklärung verläuft der Umschlagsprozess besonders radikal. Als repräsentativer Vertreter und Vollender der Aufklärung wird von Horkheimer und Adorno Marquis de Sade angesehen. Sein Amoralismus ist die konsequente Folge der Aufklärung. Sie mündet in Faschismus.

Die von Horkheimer und Adorno vorgeschlagene Interpretation der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist in vielfacher Hinsicht falsch. Neuere Forschungen zeigen, dass Sade nicht als ein repräsentativer Vertreter der Aufklärung des 18.Jahrhunderts betrachtet werden kann. Die meisten Aufklärer waren keine Amoralisten. Im Gegenteil: Sie haben elaborierte ethische Konzeptionen entwickelt, Konzeptionen, die sich von der religiös fundierten Ethik absetzten.

Für Diderot soll an die Stelle des kritiklosen Glaubens an überlieferte Meinungen selbständiges Denken treten. Der Mensch soll sich bei der Gestaltung seines Lebens nicht an religiösen Dogmen, sondern an der eigenen Natur, also den eigenen Bedürfnissen, orientieren. Eine wichtige Rolle spielt dabei sein Streben nach Glück.

Rousseau entwickelt neben der Konzeption des Gemeinwillens als Grundlage des Zusammenlebens Ideen darüber, wie individuelles Glück zu erreichen ist. Dabei spielt die Erziehung eine entscheidende Rolle. Ihr Ziel ist es, einen vernünftigen, selbständigen, tugendhaften und glücklichen Menschen herauszubilden. Die Entwicklung aller Anlagen, Fähigkeiten und Kräfte des einzelnen Menschen steht im Mittelpunkt der erzieherischen Maßnahmen.

Für Voltaire ist die menschliche Vernunft das alleinige Richtmaß des Denkens und Handelns. Er bekämpft den – vor allem religiösen – Dogmatismus und spricht sich für Toleranz, Meinungsfreiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit aller Menschen aus.

Der bereits erwähnte Immanuel Kant entwickelt auf der Basis der Ideale der Aufklärung eine Ethik, die wichtigste und einflussreichste Ethik der Neuzeit, eine Ethik, die bis auf den heutigen Tag nicht nur auf das Fachpublikum, sondern auch auf die breite Öffentlichkeit wirkt. Das aus dieser Ethik entspringende Ideal des dauerhaften Friedens auf Erden hat bis heute an Aktualität nichts verloren.

Aus den obigen Erläuterungen folgt:

„Die Kluft zwischen den ethischen Ansätzen der Radikalaufklärer und dem Sadeschen Amoralismus könnte kaum tiefer sein.“(21)

Eine Gemeinsamkeit zwischen den Radikalaufklärern und Sade besteht darin, eine von religiösen Dogmen unabhängige Lebenshaltung zu kreieren. Doch die Radikalaufklärer möchten im Gegensatz zu Sade anstelle der religiösen eine säkulare Moral entwickeln. Sades Position ist nicht auf Freiheit, Autonomie und Gleichheit, sondern auf Zwang, Unterordnung und Gehorsam ausgerichtet. Letztlich

„geht es Sade nicht um die Begründung des Atheismus, sondern um die Inthronisation einer Gegen-Gottheit: der Natur, deren ´énergie` … sich in Zerstörung, Stärke und Grausamkeit manifestiert und der wir uns angleichen sollen.“(22)

Horkheimers und Adornos These, dass die Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Gegenaufklärung umschlägt, wobei als Beleg dafür die Position von Sade herangezogen wird, ist falsch. Beide Autoren erkennen nicht die moralisch-ethische Dimension der Aufklärung. Sie erkennen vor allem nicht ihre bleibende positive Wirkung.

Aufklärung schlägt nicht in Gegenaufklärung um, vielmehr gibt es Positionen und Systeme, die entweder die Ideale der Aufklärung nicht kennen (z.B. den Islam und Formen des außer-europäischen sowie außer-westlichen Totalitarismus wie den chinesischen oder kambodschanischen Kommunismus), oder sie missverstehen bzw. nicht in der Lage sind, sie zu verwirklichen (z.B. den Kommunismus des ehemaligen Ostblocks und den Feminismus) oder ausdrücklich gegen sie verstoßen (z.B. den Faschismus und den Rassismus). Nicht Zuviel, sondern Zuwenig an Aufklärung hat zur Entstehung von totalitären Systemen geführt.

Kritische Theorie und Postmoderne

Für Horkheimer und Adorno kann es aufgrund der Dialektik der Aufklärung keine positive Vorstellung einer Ethik oder einer Gesellschaftsordnung geben. Sie können nicht positiv sagen, an welchen Werten und Normen sich die Menschen orientieren sollten. Möglich ist nur eine negative Einkreisung dessen, was gut, erstrebenswert und fortschrittlich ist. Ihre Position kann daher als nihilistisch und relativistisch bezeichnet werden. Das rückt sie in die Nähe einer heute sehr einflussreichen philosophischen Strömung: in die Nähe der philosophischen Postmoderne.

Ich möchte hier nur skizzenhaft auf einige Berührungspunkte zwischen der Kritischen Theorie und der philosophischen Postmoderne hinweisen.

(a) Die neuzeitliche Vernunft und somit auch das „Projekt der Moderne“ ist nach Ansicht von Horkheimer/Adorno und vieler Postmodernisten gescheitert.(23) Die Katastrophen der jüngeren Geschichte zeigen, was eine Orientierung an der (instrumentellen) Vernunft ausrichten kann. Es ist notwendig, die einseitige Orientierung an der instrumentellen Vernunft zu überwinden und andere Formen von Vernunft/Rationalität zur Geltung zu verhelfen.

(b) Skepsis gegenüber oder gar Ablehnung von großen theoretischen Entwürfen, Systemen und „großen Erzählungen“. Solche Entwürfe streben nach der Verallgemeinerung der Erkenntnis, ordnen das Einzelne/Individuelle unter das Allgemeine. Die Skepsis gegenüber großen Systemen zeigt sich auch in der Darstellungsweise der Dialektik der Aufklärung. Sie stellt eine Ansammlung von „Fragmenten“ dar. Auch postmoderne Denker lehnen das Systemische und in der Darstellung das Systematische ab. Sie möchten stattdessen das Fragmentarische, Partikulare und Lokale zum Ausdruck bringen.(24)

(c) Es gibt kein Subjekt, das als Ausgang und Grundlage der Erkenntnis auftreten und das – wie bei Kant – die Welt konstituieren würde. Es gibt überhaupt kein Zentrum der Welt.(25) Auch in sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen gibt es keine feste Identität. „Es gilt, seine Identität so auszubilden, dass sie der aktuellen Pluralität gewachsen, Identität in Übergängen ist.“(26)

(d) Die Verstrickung von Wissen/Erkenntnis und Macht. In der Dialektik der Aufklärung behaupten Horkheimer und Adorno, dass Erkenntnis und Macht synonym sind. Die Gegenaufklärung, in die die Aufklärung notwendigerweise umschlägt, zeichnet sich durch Unterordnung und hemmungslose Herrschaftsausübung aus. Alle Verhältnisse werden auf Machtverhältnisse reduziert. Auch für postmoderne Denker wie Michel Foucault ist der Macht-Begriff zentral. Alle sozialen Beziehungen, d.h. die gesamte soziale Welt, sind von Machtkonstellationen durchsetzt, die sich permanent verändern und umformen.(27)

(e) Die Ablehnung des Positivismus, nach dem Tatsachen die Grundlage der Erkenntnis und der wissenschaftlichen Forschung bilden, und des Szientismus, nach dem allein die (positive) Wissenschaft wahre Erkenntnisse liefern kann. Horkheimer und Adorno sowie den Postmodernisten zufolge besitzt die Wissenschaft keinen ausgezeichneten Zugang zur Wahrheit. Sie suchen nach anderen Erfahrungsbereichen, in denen sich „Wahrheit“ zeigen kann. Zu ihnen gehört in erster Linie die Kunst.

Quellen:

(1) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1988, S. 1.

(2) Gunzelin Schmid Noerr, „Unterirdische Geschichte und Gegenwart in der Dialektik der Aufklärung“, in: Harry Kunneman/Hent de Vries (Hrsg.), Die Aktualität der „Dialektik der Aufklärung“. Zwischen Moderne und Postmoderne, Frankfurt am Main 1989, S. 71.

(3) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, op. cit. 1988, S. 3.

(4) Ebd., S. 15.

(5) Ebd., D. 10.

(6) Vgl. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main 1967.

(7) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, op. cit., S. 12.

(8) Ebd., S. 10.

(9) Rüdiger Bubner, „Was ist Kritische Theorie?“, in: Karl-Otto Apel, Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main 1971, S. 180.

(10) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966.

(11) Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970.

(12) Max Horkheimer, Notizen 1950 – 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland, Frankfurt am Main 1974.

(13) Heiner Bielefeldt, „Die Würde des Menschen – Fundament der Menschnrechte“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, Hamburg 2010, S. 119.

(14) Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Horst D. Brandt/Heiner F. Klemme (Hrsg.), Hamburg 2003.

(15) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, op. cit. 1988, S. 88.

(16) Ebd., S. 93, 95.

(17) Ebd., S. 95.

(18) Ebd., S. 93.

(19) Ebd., D. 95.

(20) Ebd., S. 127.

(21) Winfried Schröder, Moralischer Nihilismus. Typen radikaler Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche, Stuttgart 2002, S. 145.

(22) Ebd., S. 155.

(23) Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985.

(24) Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz/Wien 1986.

(25) Gérard Raulet, Gehemmte Zukunft. Zur gegenwärtigen Krise der Emanzipation, Darmstadt 1986, S. 156 und 177.

(26) Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 19933, S. 197.

(27) Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1977, S. 113f.

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