Boethius als Vorbild und Hoffnungsträger
Auch in Zeiten des Nihilismus, des Werteverfalls und der Auflösung der Gesellschaft können große Leistungen vollbracht werden.
Der Philosoph und Staatsmann Boethius wurde um 480 in Rom geboren, also unmittelbar nach dem Untergang des Römischen Reichs, der auf das Jahr 476 (Absetzung des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus) datiert wird. Er stammte aus einer der bedeutendsten Familien Roms. Die Familie wurde in der Spätantike christlich. Boethius studierte wahrscheinlich in Athen und Alexandria. Von dem Ostgotenkönig Theoderich wurde er zu hohen Staatsämtern (u. a. zum Konsul 510) berufen. Er wurde zu einem wichtigen geistigen und politischen Vermittler zwischen der weströmischen und oströmischen Kirche. Aufgrund seiner Zusammenarbeit mit Ostrom wurde er des Verrats beschuldigt und nach einer Haft in Pavia um 524 hingerichtet.
Boethius gilt als der letzte große Vertreter der klassisch-griechischen Philosophie. Zugleich war er ein bedeutender christlicher Theologe und Wegbereiter der scholastischen Philosophie. Sein Werk bildet die Grundlage der christlich-mittelalterlichen Kultur.
Boethius sah deutlich den Verfall der antiken Kultur angesichts der politischen Verhältnisse und der historischen Umbruchssituation (Völkerwanderung). Sein Ziel war es, die griechische Philosophie und Wissenschaft der lateinischen Welt, auch den neu eingewanderten Völkern, zugänglich zu machen. In erster Linie wollte er das klassische Bildungsideal der Antike erneuern. Er übersetzte und kommentierte wichtige Schriften des Aristoteles. Er war aber auch ein großer Verehrer Platons.
Boethius strebte eine Einheit der aristotelischen und platonischen Philosophie an, darüber hinaus eine Synthese von griechischer Philosophie und christlicher Theologie. Ferner veröffentlichte er Lehrschriften zu Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie (diese vier Fächer werden von ihm als „quadrivium“ bezeichnet).
Berühmt wurde Boethius durch seine Schrift „Trost der Philosophie“, die er im Gefängnis von Pavia auf seine Hinrichtung wartend schrieb. Sie wurde zu den berühmtesten und meistgelesenen Schriften der Spätantike, des Mittelalters und der Renaissance. Die Philosophie, die als Frau erscheint, spendet Boethius Trost, indem sie ihm den wahren Weg der Erkenntnis zeigt. Die Ursache für sein Leiden liegt darin, dass er sich selbst und den Sinn des Ganzen noch nicht erkannt hat. Es besteht jedoch eine Hoffnung auf die Aufhebung seines Leidens, da er erkannt hat, dass Gott der Weltschöpfer und das höchste Gut ist.
Die Philosophie zeigt zunächst Boethius, wovon er sich fernhalten soll, was die wahre Glückseligkeit verhindert. Äußere Güter wie Reichtum, Ruhm, Macht und Würden sind unbeständig und zufällig. Sie verschaffen keine echte Befriedigung und führen somit nicht zur wahren Glückseligkeit. Boethius soll daher auf die Pflege der inneren Güter, der inneren Tugenden und der inneren Haltung achten. Nur sie kann den Weg zur Glückseligkeit ebnen. Das wahre Wesen der Glückseligkeit liegt jedoch in Gott, dem letzten Zweck aller Dinge. Beides, die Erkenntnis des eigenen Selbst und die der göttlichen Allmacht, führen zur Glückseligkeit.
Da Gott die Welt erschaffen hat und sie mit voller Güte lenkt, stellt sich die Frage, wie angesichts der göttlichen Allmacht und Güte das Böse in der Welt eine so große Rolle spielt. Das Böse hat nur auf den ersten Blick einen großen Einfluss auf die Welt und die Menschen. Die Bösen können niemals glücklich werden, weil sie nicht die inneren Tugenden vervollkommnen und an Gottes Güte nicht teilhaben. Zwar können auch die Guten von schweren Schicksalsschlägen getroffen werden. Dies hat dann jedoch einen tieferen Sinn: Die Auseinandersetzung mit dem eigenen schweren Los führt zur Veredelung der Seele; aus schweren Lebenssituationen geht der Einzelne gestärkt hervor.
Abschließend wird in der Trostschrift die Frage erörtert, wie die göttliche Vorsehung mit der menschlichen Willensfreiheit vereinbart werden kann. Nur Gott besitzt die uneingeschränkte Willensfreiheit. Nur er kann über die Geschicke der Welt und des Menschen vollkommen frei entscheiden. Je näher der einzelne Mensch zu Gott steht, um so größer ist auch seine Willensfreiheit. Je weiter er sich von Gott entfernt, d. h. je stärker er an die Bedürfnisse des Körpers verhaftet bleibt, um so schwächer wird sie. Gott kennt alle Handlungsmöglichkeiten des Menschen, schränkt jedoch seine Freiheit nicht ein.
Boethius beendet seine Schrift mit dem Appell an den Leser, die Tugenden zu pflegen, den Lastern zu widerstehen und zu Gott zu beten. Interessant an der Schrift ist der Umstand, dass sich Boethius als Christ in seiner Not auch oder gar in erster Linie an der klassisch-griechischen Philosophie orientiert.
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