Auf den Spuren von Wilhelm Dilthey
Wilhelm Dilthey gehört zu den bedeutendsten Philosophen des 19. Jahrhunderts. Leider ist er dem breiten Publikum nicht sonderlich bekannt, nicht so bekannt wie sein Zeitgenosse Friedrich Nietzsche, obgleich sein Beitrag zur Geistesgeschichte immens ist.
Dilthey gilt als einer der bedeutendsten Hermeneutiker (Hermeneutik = Kunst des Verstehens) und als Begründer der Geisteswissenschaften, genauer: der geisteswissenschaftlichen Methodologie.
Er wurde am 19. 11. 1833 in Biebrich, heute ein Stadtteil von Wiesbaden (Hessen), geboren. In seinem Geburtshaus befindet sich heute eine Gaststätte, zu der ein Biergarten gehört. An der Mauer des Biergartens ist ein Portrait von Dilthey zu sehen. Nicht weit von seinem Geburtshaus befindet sich am Rhein das Schloss Biebrich und der Biebricher Schlosspark.
Als ich das erste Mal Diltheys Geburtshaus besuchen wollte, wusste ich nicht, wo es sich befindet. Ich fragte mindestens fünf Einwohner von Biebrich nach dem Weg. Leider konnten sie mir keine Auskunft geben – sie wussten nicht mal, wer Wilhelm Dilthey war.
In meinem Nachschlagewerk Große Denker schreibe ich über die Philosophie von Dilthey:
„Dilthey ist einer der bedeutendsten Methodologen der Geisteswissenschaften. Er spricht auch von einer Grundlegung der Geisteswissenschaften. Die Aufgabe seiner Philosophie ist es, die Eigenart der Geisteswissenschaften und damit auch den Unterschied zwischen ihnen und den Naturwissenschaften herauszustellen.
Der Gegenstand der Geisteswissenschaften ist die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Äußerungen (Manifestationen) dieser Wirklichkeit sollen in den Geisteswissenschaften nacherlebt und denkend erfasst werden. Gegenstand der Naturwissenschaften ist die äußere Wirklichkeit. In ihnen wird von der Besonderheit der Einzeldinge und –vorgänge abgesehen. Die Einzeldinge und –vorgänge werden als Fälle von allgemeinen Naturgesetzen erklärt.
Ziel der geisteswissenschaftlichen Arbeit ist das Verstehen von individuellen, geschichtlichen Ereignissen, Zeugnissen usw. In den Naturwissenschaften geht es also um das Erfassen des Allgemeinen, in den Geisteswissenschaften um das Erfassen des Einzelnen, Besonderen, Individuellen. Die Vorgehensweise (Methode) der Naturwissenschaften ist das Erklären, die der Geisteswissenschaften das Verstehen.
Dilthey gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Theorie des Verstehens, die als Hermeneutik bezeichnet wird. Er bestimmt das Verstehen als das Erfassen von Bedeutungen menschlicher Äußerungen. Dieses Erfassen ist möglich, weil Menschen in einer gemeinsamen, geschichtlichen Welt leben; sie teilen sich bestimmte Meinungen, Normen, Werte und Überzeugungen; sie besitzen einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund. Zum Verstehen der Bedeutung von Äußerungen gehören das Sich-Hineinversetzen, das Nachvollziehen und das Nacherleben.
Um die geschichtliche Welt, in der sich alles permanent verändert, zu verstehen, muss – so Dilthey – die kantische „Kritik der reinen Vernunft“ durch eine „Kritik der historischen Vernunft“ erweitert werden. Dies bedeutet erstens, dass spezifische Bedingungen des Erfassens bzw. Verstehens der geschichtlichen Welt herausgestellt werden müssen, und zweitens, dass diese Bedingungen nicht statisch und unveränderlich, sondern veränderlich, dynamisch und prozesshaft sind. Sowohl die historische Wirklichkeit (das Ablaufen von Ereignissen) als auch das Wissen um diese Wirklichkeit haben demnach einen dynamischen, d. h. geschichtlichen, Charakter. Dieser Sachverhalt wird auch als Geschichtlichkeit bezeichnet.
Aufgrund seiner methodologischen Überlegungen entwickelt Dilthey eine Lebensphilosophie. Das Leben bezeichnet das Ganze (die Totalität) des Menschen und der vom Menschen geprägten Welt. Der Mensch (Subjekt) und die Welt (Objekt) bilden im Leben, im Erlebniszusammenhang, eine Einheit. Alle Produkte des Menschen sind Funktionen des Lebens. Das Leben liegt der Verstandestätigkeit zugrunde. Auch der Verstand ist eine Funktion des Lebens.
Als kleinste Einheit des Lebens wird das Erlebnis bestimmt. Im Erlebnis kommt die Struktur des gesamten geschichtlichen Lebens zum Ausdruck. Im Erlebnis gründet die Einheit von Subjekt und Objekt. Das Erlebnis ist nicht hintergehbar. Die wichtigsten Kategorien des Lebens sind: Zeitlichkeit, Bedeutung, Wert, Zweck, Struktur, Entwicklung und das Verhältnis von Ganzem und Teilen.
Dilthey lieferte grundlegende Beiträge zur Methodologie der Geisteswissenschaften, zur Hermeneutik und zur Lebensphilosophie. Er beeinflusste u. a. M. Scheler, E. Husserl, M. Heidegger und H. G. Gadamer.“
Quelle: Alexander Ulfig, Große Denker, Kindle Edition.
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