Der Marxismus und sein schwieriges Verhältnis zur Ethik
Eine Studie der Freien Universität Berlin zeigt, dass linksextreme Tendenzen in Deutschland weit verbreitet sind. Viele Linke befürworten Gewalt, sprechen sich sogar für eine Revolution aus und weisen antidemokratische und antifreiheitliche Denkmuster auf.
Diese Tendenzen verweisen auf das Fehlen einer moralisch-ethischen Grundhaltung. Doch dieses Desiderat kommt nicht von ungefähr, sondern ist bereits in der Theorie des geistigen Vaters der linken Bewegungen Karl Marx angelegt.
Im ersten Schritt werde ich erläutern, warum Karl Marx keine Ethik entwickelte. Im zweiten Schritt möchte ich auf den in den sozialistischen Ländern unternommenen Versuch, eine „marxistisch-leninistische Ethik“ auszuarbeiten, eingehen. Schließlich werde ich einige Auswirkungen einer auf moralisch-ethische Grundsätze verzichtenden Grundhaltung behandeln, die bei vielen heutigen Linken zu beobachten sind.
Doch zuvor noch eine kurze Bemerkung zum Begriff des Marxismus. Unter Marxismus verstehe ich erstens die von Karl Marx entwickelte Theorie, also die Marxsche Theorie, zweitens die von seinem Freund Friedrich Engels ausgearbeitete Theorie, mit der Marx wohl vollständig übereinstimmte, und die Theorien, die sich auf Marx und Engels berufen.
Warum Karl Marx keine Ethik entwickelte
Karl Marx unterscheidet zwischen der materiellen Basis und dem ideellen Überbau. Zur materiellen Basis gehören Produktionsverhältnisse (z.B. Besitzverhältnisse, Organisation der Arbeit, Hierarchie-Verhältnisse in den Produktionsstätten) und Produktivkräfte (z. B. Fähigkeiten und Fertigkeiten der produzierenden Menschen, Rohstoffe und Produktionsmittel wie Werkzeuge und Maschinen). Zum ideellen Überbau zählen geistig-kulturelle Phänomene wie Philosophie, Moral, Religion und Recht. Anstatt vom ideellen Überbau kann man auch vom denkenden Bewusstsein sprechen.
Marx kritisiert alle Lehren, nach denen es eine ideelle, also rein geistige Sphäre gibt, die eine selbständige Größe darstellt und einen Vorrang vor der materiellen Basis hat. Er nennt diese Lehren Ideologie. Sie sind bloß Ausdruck der herrschenden ökonomischen Verhältnisse, Ausdruck der Interessen der herrschenden Klassen.
Marx zufolge verhält es sich folgendermaßen: Die materielle Basis, auch gesellschaftliches Sein genannt, bildet die fundamentale Wirklichkeit und bestimmt das denkende Bewusstsein:
„Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“(1)
Marx rechnet Moral und die Formulierung sowie Begründung von allgemeingültigen moralischen Normen (Ethik) zum ideellen Überbau, die bisherigen Moralvorstellungen und Ethiken zur Ideologie, zum falschen Bewusstsein, dem materielle Produktionsverhältnisse zugrunde liegen.(2)
Moral und Ethik sind wie alle Überbau-Phänomene ein „Reflex“ der herrschenden ökonomischen Verhältnisse und somit der Interessen der herrschenden Klasse:
„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit im Duschschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.“(3)
Das betrifft nach Engels natürlich auch die Moral:
„Und wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen bewegte, so war die Moral stets eine Klassenmoral; entweder rechtfertigte sie die Herrschaft und die Interessen der herrschenden Klasse, oder aber sie vertrat, sobald die unterdrückte Klasse mächtig genug wurde, die Empörung gegen diese Herrschaft und die Zukunftsinteressen der Unterdrückten.“(4)
Für Marx und Engels äußerten sich in den bisherigen Moralsystemen immer die Interessen von bestimmten Gruppen, also Partikularinteressen. Eine allgemeingültige, d.h. für alle Menschen geltende Moral ist für sie ein Hirngespinst, falsches Bewusstsein. Auch die „proletarische Bewegung“, die große Alternative zum Bürgertum, vertritt partikulare Interessen:
„Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“(5)
Auch wenn Marx und Engels hier von der „Mehrzahl“ sprechen, so meinen sie doch nicht alle Menschen. Auch das Proletariat kann nicht den Anspruch erheben, die Interessen aller Menschen vertreten zu wollen.(6)
Schildern Marx und Engels die Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft, die auf der Herrschaft des Proletariats beruhende Gesellschaft, so schreiben sie bezeichnenderweise nicht von „Moral“, sondern von „Interessen“ der Menschen, höchstens von einer Haltung und dem mit ihr verbundenen politischen Kampf, von einer revolutionären Praxis.
Ihr Immoralismus, d.h. die Ablehnung von Moral und Ethik, gründet in ihrem Geschichtsverständnis:
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen.“(7)
Marx und Engels möchten zeigen, wie die Welt ist, wie sie sich entwickelt hat und entwickeln wird. Sie möchten nicht zeigen, wie die Welt gemäß allgemeingültigen Normen sein sollte. Auch die zukünftige Gesellschaftsordnung, der Kommunismus, ist nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, nicht ein Ideal, nach dem sich die Wirklichkeit richten sollte:
„Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“(8)
Menschen handeln zwar bewusst und mit Absicht, verfolgen Ziele usw., aber sie haben keinen Einfluss auf den Lauf der Geschichte. Menschen sind insofern keine moralischen Subjekte, d.h. sie sind keine Personen, die moralische Ansprüche stellen, sie einlösen und verantwortlich handeln können.
Die Gegensätze zwischen den Klassen, die wiederum auf dem Widerspruch zwischen den Produktionsverhältnissen und Produktivkräften beruhen, führen unabdingbar zu Konflikten, zu Klassenkämpfen. Klassenkämpfe kulminieren in Revolutionen, die ebenfalls quasi naturgesetzliche, notwendige Ereignisse sind: Sie müssen mit Notwendigkeit auftreten.
Das kapitalistische System, die Herrschaft der Bourgeoisie, kann nur durch eine von der Arbeiterklasse, dem Proletariat, durchgeführte Revolution beseitigt werden. Während beim frühen Marx das Konzept der „menschlichen Emanzipation“, also der Befreiung des Menschen von in erster Linie ökonomischen Zwängen vorherrschend ist, gewinnt beim mittleren und späten Marx das Konzept der „revolutionären Praxis“ immer mehr an Bedeutung:
„Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt oder rationell verstanden werden.“(9)
In der revolutionären Praxis haben moralische und ethische Überlegungen keinen Platz. Mit dem Erstarken sozialistischer und kommunistischer Anschauungen „war aller Moral, sei sie Moral der Askese oder des Genusses, der Stab gebrochen“.(10) Die (moralische) „Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. vermittels einer anderen Interpretation anzuerkennen“.(11) An anderen Stellen setzt er sogar „revolutionär“ in Opposition zu „moralisch“ und schreibt von „unmoralischen revolutionären Proletariern“.(12)
Kennzeichnend für Marx` Verhältnis zur Moral und Ethik ist seine Bestimmung der Begriffe Gleichheit und Gerechtigkeit. Aus der Marxschen Theorie folgt, dass Gleichheit erst nach einer proletarischen Revolution. d.h. nach der Abschaffung des Privateigentums und der Überführung de Produktionsmittel in gemeinschaftliches Eigentum verwirklicht werden kann. Die Abschaffung des Privateigentums würde zur Aufhebung der Ausbeutung und Entfremdung sowie zur Beendigung des Klassenkampfes führen. Gleichheit kann daher als „Klassenlosigkeit“ und als gerechte Verteilung von Produktionsmitteln und Gütern aufgefasst werden.(13) Sie ist somit eine ökonomische und soziale, keine moralisch-ethische Kategorie, denn die letztere bezieht sich auf gleiche Achtung vor allen Menschen, gleiche Inanspruchnahme von Freiheitsrechten, gleiche Teilhabe am politischen Leben und rechtliche Gleichheit, d.h. gleiche Behandlung aller Menschen vor dem Gesetz.
Auch Gerechtigkeit wird von Marx als eine ökonomische, höchstens anthropologisch-ökonomische Kategorie bestimmt. Für ein nachkapitalistisches, also kommunistisches System schlägt er ein Gerechtigkeitsprinzip vor, das als ein distributives Prinzip, also als ein Verteilungsprinzip aufgefasst werden kann:
„Nun aber besteht eines der wesentlichsten Prinzipien des Kommunismus … in der auf die Natur des Menschen begründeten empirischen Ansicht, daß die Unterschiede des Kopfes und der intellektuellen Fähigkeiten überhaupt keine Unterschiede des Magens und der physischen Bedürfnisse bedingen; daß mithin der falsche, auf unsre bestehenden Verhältnisse begründete Satz: `Jedem nach seinen Fähigkeiten`, sofern er sich auf den Genuß im engeren Sinne bezieht, umgewandelt werden muß in den Satz: Jedem nach Bedürfnis; daß, mit andern Worten, die Verschiedenheit in der Tätigkeit, in den Arbeiten, keine Ungleichheit, kein Vorrecht des Besitzes und Genusses begründet.“(14)
Das Kriterium für eine gerechte Verteilung von Gütern soll demnach nicht die Leistung, sondern das Bedürfnis sein. Somit lehnt Marx das Leistungsprinzip ab und ersetzt es durch ein sehr umstrittenes Prinzip, das mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt: Um welche Bedürfnisse handelt es sich genau? Haben Individuen nicht unterschiedliche Bedürfnisse? Und wie können Bedürfnisse überhaupt gemessen werden?
Betrachten wir abschließend Marx` und Engels` Verhältnis zu Menschenrechten, denn in den Menschenrechte kommen moralisch-ethische Werte und Normen deutlich zum Ausdruck. Zunächst muss erwähnt werden, dass auch das Rechtssystem nach Marx ein Überbau-Phänomen und Ausdruck materieller Produktionsverhältnisse ist:
„Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.“(15)
Auch die von den Aufklärern aus ethischen Überlegungen abgeleiteten allgemeingültigen Menschenrechte werden von Marx als Manifestationen der Interessen der herrschenden Klasse betrachtet:
„Die Ideen der Gewissens- und Religionsfreiheit sprachen nur die Herrschaft der freien Konkurrenz auf dem Gebiet des Wissens aus.“(16)
Er betont ferner,
„dass die Menschenrechte den Menschen … nicht von der Religion befreien, sondern ihm die Religionsfreiheit geben, ihn nicht von dem Eigentum befreien, sondern ihm die Freiheit des Eigentums verschaffen, ihn nicht von dem Schmutz des Erwerbs befreien, sondern ihm vielmehr die Gewerbefreiheit verleihen.“(17)
Marx möchte, dass an die Stelle des „prunkvollen Katalogs der ´unveräußerlichen Menschenrechte`“ – wie er ironisch bemerkt – die „bescheidene Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstags“ tritt.(18) Soziale Rechte haben Marx zufolge einen Vorrang vor den Menschenrechten.
Engels macht darauf aufmerksam, dass mit der Proklamation der Menschenrechte in der US-amerikanischen Verfassung gleichzeitig die Sklaverei beibehalten wurde.(19) Mit solchen Beispielen diskreditiert er immer wieder die Menschenrechte, doch der Verstoß gegen sie, hier die Beibehaltung der Sklaverei, spricht nicht grundsätzlich gegen ihre Gültigkeit, sondern zeigt, dass sie nicht konsequent eingehalten wurden.
Engels spielt immer wieder die Menschenrechte gegen soziale und ökonomische Rechte, z.B. die soziale und ökonomische Gleichheit, aus. Das Nichtbestehen von sozialer und ökonomischer Gleichheit ist für ihn ein Grund für die Ablehnung von Menschenrechten.(20) Doch beide Arten von Rechten schließen sich gegenseitig nicht aus. Die Durchsetzung von sozialen und ökonomischen Rechten muss nicht die Ablehnung von Menschenrechten wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz usw. zur Folge haben.
Marxistisch-leninistische Ethik
Schon früh wurde das Desiderat der Marxschen Theorie, das Fehlen einer Ethik, gesehen und bemängelt. Sozialistische Denker, die dem Neukantianismus nahestanden und für die Theorie und die Politik der Sozialdemokratie maßgeblich waren, allen voran Eduard Bernstein, versuchten, die Marxsche Theorie mit Kants Ethik zu ergänzen und ihr auf diese Weise ein ethisches Fundament zu geben.(21)
Ob allerdings die „Synthese von Marxismus und kantischer Ethik“ noch als genuin marxistisch zu bezeichnen ist, ist mehr als fraglich, denn:
„Mit der Einbeziehung moralischer Gesichtspunkte werden genau jene ´Nebelbildungen` … in den Marxismus reimplantiert, deren Destruktion das ausdrückliche Ziel der Ideologiekritik seiner Urheber war.“(22)
Ein großangelegter Versuch, eine „marxistische Ethik“, genauer: eine „marxistisch-leninistische Ethik“ zu entwickeln, wurde in den sozialistischen Ländern des ehemaligen Ostblocks unternommen. Dort wurde der Marxismus – ergänzt durch die Theorie von Lenin – zur Staatsdoktrin erhoben.
In dem in der DDR von einem Autorenkollektiv verfassten Standardwerk Ethik werden die Grundzüge der „marxistisch-leninistischen Ethik“ dargestellt. In Anlehnung an Marx wird zunächst behauptet, dass Moral Ausdruck von sozio-ökonomischen Verhältnissen, von „Eigentumsverhältnissen an den Produktionsmitteln, der Wechselwirkung der verschiedenen Klassen und Gruppen, der Verteilungs- und Austauschformen“ ist.(23) Die Ökonomie bleibt „in jeder Entwicklungsphase“ die Grundlage der Moral. Jegliche Moral ist Klassenmoral.
„Sozialistische und kommunistische Moral“, eine Moral, die erst nach dem Sieg der proletarischen Revolution auf der ganzen Welt eintreten und alle Menschen betreffen würde, ist dennoch keine allgemeingültige, d.h. für alle Menschen geltende, sondern eine partikulare, auf eine bestimmte Gruppe von Menschen, das Proletariat, bezogene Moral. Mit anderen Worten: Sie soll die Interessen der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen. An einer anderen Stelle sprechen die Autoren auch vom Moralbewusstsein als der Widerspiegelung der klassenspezifischen materiellen Bedürfnisse und Interessen.(24)
„Sittlich“ ist der „marxistisch-leninistischen Ethik“ zufolge,
„was der Zerstörung der alten Ausbeutergesellschaft und dem Zusammenschluß aller Werktätigen um das Proletariat dient, das eine neue, die kommunistische Gesellschaft aufbaut.“(25)
Der revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse schafft die Bedingungen zur Erfassung von „Moralprinzipien“. Zu diesen Prinzipien gehört vor allem die Treue zur marxistisch-leninistischen Partei als der „Vorhut der Arbeiterklasse“.(26) Zu weiteren Prinzipien gehören der militärische Schutz des Sozialismus („sozialistische Wehrmoral“), der Kampf gegen den Imperialismus, Friedenssicherung und gewissenhafte Arbeit zum Wohle der sozialistischen Gesellschaft.(27) Eine besondere Rolle spielt die Arbeitsmoral, zu der Verhaltensnormen wie Disziplin, Pünktlichkeit, Kameradschaftlichkeit, Sauberkeit und Ordnung gehören.
Wir sehen, dass die marxistisch-leninistische Ethik nicht allgemeingültige Normen formuliert und begründet, sondern Direktiven aufstellt. Sie sind Instrumente zur Durchsetzung von partikularen Interessen, d.h. von Interessen einer Parteielite, einer Nomenklatura, die im Namen der Arbeiterklasse zu sprechen vorgibt.
Legitimiert werden solche Direktiven nicht durch moralische oder ethische Grundsätze, sondern durch den Glauben an eine historische Notwendigkeit; um Ziele, die sich aus der notwendigen Entwicklung der Geschichte ergeben, zu erreichen, ist jedes Mittel recht. Das zeigt die Praxis der kommunistischen Machtergreifung und Herrschaft.(28)
Während in dem genannten Standardwerk zur marxistisch-leninistischen Ethik die Menschenrechte nicht behandelt werden, sind sie in dem von dem DDR-Juristen Hermann Klenner verfassten Band Marxismus und Menschenrechte Gegenstand einer ausführlichen Untersuchung. Klenner wiederholt weitgehend die Marxsche Kritik an den Menschenrechten und verweist – auch in Marxscher Manier – auf die Verletzung von Menschen- und Sozialrechten in der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern.
Die sog. Menschenrechte beziehen sich gemäß Klenner nur auf die „Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft“, d. h. auf den „egoistischen“, auf sein „Privatinteresse“ fixierten und von der Gemeinschaft getrennten Menschen.(29) Sie drücken das Interesse der herrschenden Klasse aus, dienen ihr als Mittel, um politische Ziele zu erreichen. Menschenrechte werden von Klenner immer wieder mit Eigentumsrechten in Verbindung gebracht. Diejenigen, die etwas besitzen, können Menschenrechte in Anspruch nehmen. Die Besitzlosen können es nicht und sind dem Willen der Besitzenden ausgeliefert.
Die verachtende Haltung gegenüber den Menschenrechten drückt folgende Äußerung Klenners aus:
„Nur: so unumgänglich wie die proletarische Revolution und die in ihr sich bildende proletarische Diktatur in die Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft eingreift, so unumgänglich muß sie auch gegen als Menschenrechte ausgegebene Grundrechte der Gesellschaft verstoßen.“(30)
Im Anschluss an Lenin hebt Klenner hervor, dass es ein „Unding“ ist, den Kapitalisten elementare Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu versprechen oder sie an Wahlen beteiligen zu lassen.
Rechte im marxistisch-leninistischen Sinne sind offensichtlich Partikularrechte, also Rechte, die nur für eine bestimmte Gruppe von Personen, das Proletariat, gelten sollten. Faktisch war es jedoch nicht das Proletariat, sondern die kommunistische Partei, genauer: eine Führungsgruppe innerhalb der Partei, die das Recht bestimmte bzw. im gewissen Sinne über dem Recht stand.
Obwohl die DDR und andere sozialistische Staaten 1975 die Schlussakte von Helsinki unterschrieben haben, in denen sie sich zur Einhaltung von Menschenrechten wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw. verpflichtet haben, haben sie gegen die genannten Menschenrechte massiv verstoßen.(31)
Der Grund dafür liegt meines Erachtens in der Ablehnung von Menschenrechten durch die kommunistischen Eliten und letztlich in ihrer Diskreditierung durch die Gründerväter der kommunistischen Bewegung Karl Marx und Friedrich Engels.
An dieser Stelle möchte ich auf eine Richtung eingehen, die als westlicher Marxismus, auch Neomarxismus, bezeichnet wird. Darunter versteht man unterschiedliche Positionen, die sich auf eine undogmatische Weise mit der Marxschen Konzeption auseinandersetzen. Zu ihnen gehören u.a.: die sog. Frankfurter Schule der ersten (T.W. Adorno, M. Horkheimer, H. Marcuse, F. Pollock, W. Benjamin, E. Fromm), der zweiten (J. Habermas, A. Wellmer) und der dritten Generation (A. Honneth), Denker im Umkreis der Frankfurter Schule wie G. Lukács sowie E. Bloch und die sog. Praxis–Gruppe in Jugoslawien.
Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, das Verhältnis dieser Positionen zur Ethik zu erläutern. Ich möchte hier nur die Frage stellen, ob die genannten Positionen überhaupt als marxistisch bezeichnet werden können, da sie zentrale Bestandteile der Marxschen Konzeption entweder gänzlich oder zum großen Teil nicht enthalten. Zu den Bestandteilen zählen: der sog. ökonomische Reduktionismus (die Rückführung von Phänomenen aller Art auf ökonomische Verhältnisse), die Analyse der Entfremdung anhand der Warenproduktion, die führende Rolle des Proletariats als des Motors der historischen Entwicklung und das Revolutionskonzept.
Beispielsweise akzeptieren die Vertreter der ersten Generation der Frankfurter Schule die ökonomische Analyse von Marx, erweitern den Begriff der Entfremdung um den der Verdinglichung, verzichten jedoch auf die restlichen Bestandteile der Marxschen Konzeption. In der Habermasschen „Theorie des kommunikativen Handelns“ vermag ich keinen einzigen der genannten Bestandteile zu erkennen. Das zwanghafte Insistieren auf „normative Grundlagen der Marxschen Theorie“, die bei den Vertretern der zweiten und dritten Generation der Frankfurter Schule zu beobachten ist, kann nur als ein Versuch gedeutet werde, sich mit Marx zu schmücken, d.h. die eigene Positionen aufzuwerten und sich als besonders progressiv darzustellen.
Linksextremismus und Ethik
Eine Studie von Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin belegt, dass linksextreme Einstellungen in Deutschland weit verbreitet sind.(32) Ein Sechstel der bundesrepublikanischen Bevölkerung weist eine „linksradikale/linksextreme Haltung“ auf. Von den als „linksextrem“ eingestuften Personen sprechen sich 14 Prozent für Gewaltanwendung aus, Ein Fünftel der Bevölkerung befürwortet sogar eine Revolution, was ebenfalls Akzeptanz von Gewalt bedeutet.
Die von Linksextremisten verübte Gewalt hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Ca. 30 bis 40 Prozent der Gewalttaten werden von sog. „nichtextremistischen Linken“ verübt, was bedeutet, dass auch „demokratische“, „relativ gemäßigte, wenn auch radikale Linke“ Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung akzeptieren. Diesen Linken ist es gelungen, in einigen Bereichen der Gesellschaft großen Einfluss zu gewinnen, so z.B. in den politischen Parteien und in den Medien. Linksextremismus ist somit in die Mitte der Gesellschaft eingesickert.
Weitere Ergebnisse der Studie sind: Knapp 60 Prozent der Ostdeutschen und 37 Prozent der Westdeutschen halten den Sozialismus/Kommunismus für eine „gute Idee, die bisher nur schlecht ausgeführt worden sei …“. Für 42 Prozent ist „soziale Gleichheit“ wichtiger als „Freiheit des Einzelnen“. Rechtsextremisten – oder solchen, die sie dafür halten – wollen 37 Prozent der Befragten das Demonstrationsrecht – also ein anerkanntes Menschenrecht – verweigern.
Die in der Studie aufgezeigten Tendenzen zeugen vom Fehlen einer moralisch-ethischen Grundhaltung in Teilen der politischen Linken, einer Grundhaltung, die sich an allgemeingültigen moralischen Werten und Normen orientieren würde. Dieses Desiderat im Denken und Handeln vieler Linker möchte ich anhand ihres Verhältnisses zu Feminismus-Kritikern veranschaulichen.
Feminismus-Kritiker werden von Personen, die links sind bzw. sich als links bezeichnen oder als links fühlen,(33) diffamiert, in die rechte Ecke gestellt, ausgegrenzt und sogar bedroht. Der renommierte Geschlechterforscher Gerhard Amendt, der feminismuskritische Thesen vertritt, musste auf mehreren Kongressen wegen Gewaltdrohungen linker Gruppen mit Leibwächtern erscheinen.(34)
Zwar wurde er zu einer Diskussion zur Frauenquote an der TU Berlin eingeladen, doch dann auf Druck von linken Gruppen wieder ausgeladen. In einem Offenen Brief an die Fachschaft der TU Berlin prangert er die Beschneidung von Freiheitsrechten wie Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit an.(35)
Ein ähnliches Schicksal erlitt der israelische Historiker Martin van Creveld, der an der Universität Trier die Vortragsreihe „Krieg und Frauen“ abhalten wollte. Nach seinem ersten Vortrag wurde er auf Druck des von linken Gruppen dominierten Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) der Universität Trier ausgeladen, weil er Thesen vertrat, die feministischen Vorstellungen widersprachen und angeblich „frauenfeindlich“ waren. Martin van Creveld kommentierte seine Ausladung damit, „dass einige deutsche Studenten nichts aus der Bücherverbrennung von 1933 gelernt“ haben.(36)
Es sind aber nicht nur kleine linke Splittergruppen oder kleine linksautonome Gruppen, die eine offene, freie und sachliche Diskussion mit Andersdenkenden verweigern, sie diffamieren, ausgrenzen und in ihren Grundrechten beschneiden. Auch Organisationen, die in der linken Tradition stehenden Parteien nahestehen, beteiligen sich an dieser Hetze gegen Feminismus-Kritiker. So werden in einer „Expertise“ der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Titel „Geschlechterkampf von rechts“ Feminismus-Kritiker und Männerrechtler – unter ihnen der oben erwähnte Gerhard Amendt – pauschal in die rechte Ecke gestellt, ohne dass sich der Autor der „Expertise“ Thomas Gesterkamp auch nur ansatzweise mit den Argumenten der von ihm diffamierten Personen auseinandersetzen würde.(37)
In der von der Heinrich-Böll-Stiftung, die den GRÜNEN nahesteht, herausgegebenen Magisterarbeit des Soziologen Hinrich Rosenbrock „Die antifeministische Männerrechtsbewegung“ werden sogar Parallelen zwischen der Haltung des Massenmörders Anders Breivik und feminismuskritischen und männerrechtlichen Positionen konstruiert.(38) Solche Diffamierungen werden von den Leitmedien, insbesondere von Leitmedien, die sich als links bezeichnen, z.B. der taz, bereitwillig übernommen und verbreitet.
Die Bekämpfung von Andersdenkenden mittels Diffamierung ist „moralisch verwerflich“, so der Feminismus-Kritiker Günter Buchholz. Er fährt fort:
„Wissenschaftlich und fair ist es hingegen, die inhaltlichen Kritikpunkte aufzunehmen und möglichst vorurteilsfrei zu prüfen und sich einem offenen kontroversen Diskurs zu stellen. Dazu gehört: den Gegnern zuhören, sich auf die Argumente der Gegner mit eigenen sachlichen und konstruktiven Gegenargumenten einlassen und konstruktiv nach Lösungen der bestehenden Probleme suchen. (…) Insbesondere – aber nicht nur – jene, die für sich beanspruchen, eine linke, eine emanzipative Politik zu betreiben oder zu fördern, sind gehalten, sich kommunikativ korrekt zu verhalten, wenn sie ihrem eigenen Anspruch nicht zuwiderhandeln wollen.“(39)
Ob jedoch dieser Anspruch, der fundamentale diskursive und nicht-diskursive moralische Normen beinhaltet, vielen, sich als links bezeichnenden Personen bewusst ist, wage ich zu bezweifeln, denn das Fehlen einer moralisch-ethischen Grundhaltung ist für weite Teile der linken Denktradition konstitutiv, und zwar seit den Anfängen dieser Denktradition bei Karl Marx und Friedrich Engels. Beide Denker haben es versäumt, ihre Lehre auf ethische Fundamente zu stellen oder wenigstens ethische Aspekte zu berücksichtigen. Das hatte und hat bis heute verheerende Folgen für eine sich links gebärdende Politik. Nur eine Umorientierung, eine tiefgreifende Änderung des linken Selbstverständnisses könnte hier Abhilfe schaffen.
Quellen
(1) Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 13, Berlin 1969, S. 9.
(2) Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 26f.
(3) Ebd., S. 46.
(4) Friedrich Engels, Anti-Dühring, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1975, S. 88.
(5) Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 4, Berlin 1969, S. 472.
(6) Winfried Schröder, Moralischer Nihilismus. Typen radikaler Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 110.
(7) Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 13, Berlin 1969, S. 8.
(8) Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 35.
(9) Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 6.
(10) Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 404.
(11) Ebd., S. 20.
(12) Ebd., S. 199.
(13) Vgl. Andreas Böhm, Kritik der Autonomie. Freiheits- und Moralbegriffe im Frühwerk von Karl Marx, Bodenheim 1998, S. 130.
(14) Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 528.
(15) Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 19, Berlin 1962, S. 21.
(16) Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 4, Berlin 1969, S. 480.
(17) Karl Marx/Friedrich Engels, Die heilige Familie, in:Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 2, Berlin 1970, S. 119.
(18) Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 23, Berlin 1979, S. 320.
(19) Friedrich Engels, Anti-Dühring, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1975, S. 98f.
(20) Ebd., S. 99.
(21) Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Berlin 1921.
(22) Winfried Schröder, op. cit. 2002, S. 122.
(23) H. E. Hörz/U. Wilke (Gesamtleitung), Ethik, Berlin 1986, S. 25.
(24) Ebd., S. 29.
(25) Wladimir Iljitsch Lenin, „Die Aufgaben der Jugendverbände“, in: Ders., Werke Bd. 31, Berlin 1959, S. 283.
(26) H.E. Hörz/U. Wilke, op. cit. 1986, S. 138.
(27) Ebd., S. 137ff.
(28) Stéphane Courtois u.a., Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998.
(29) Hermann Klenner, Marxismus und Menschenrechte. Studien zur Rechtsphilosophie, Berlin 1982, S. 61.
(30) Ebd., S. 109.
(31) „Die Stasi und die Menschenrechte“ (hrsg. vom Bundesbeauftragtenfür die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik): http://www.demokratie-statt-diktatur.de/DSD/DE/Service/Hintergruende/Menschenrechte-DDR.html
(32) Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder, Gegen Staat und Kapital – für die Revolution! Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie, Frankfurt/Main 2015:
https://idw-online.de/de/news?print=1&id=625936
(33) „Die politische Linke und der Feminismus“ (ein Interview mit Günter Buchholz), in: Le Bohemien 26.9.2013:
http://le-bohemien.net/2013/09/26/politische-linke-und-feminismus/
(34) „Politik heizt Feindseligkeit zwischen den Geschlechtern an“ (Interview mit Gerhard Amendt), in: MANNdat 5.4.2014:
http://manndat.de/feministische-mythen/gerhard-amendt-im-interview-mit-manndat.html
(35) „Wissenschafts- und an TU Berlin unter Beschuss – Offener Brief von Prof. Gerhard Amendt, in: Genderama 26.11.2013:
http://genderama.blogspot.de/2013/11/wissenschafts-und-meinungsfreiheit-tu.html
(36) Markus Böhm, „Vortrags-Panne: Uni Trier brüskiert renommierten Kriegsforscher“, in: Spiegel Online 27.10. 2011:
http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/vortrags-panne-uni-trier-brueskiert-renommierten-kriegsforscher-a-794094.html
(37) Walter Hollstein, „Sind Männerrechtler ´rechts`?“, in: Die Welt 11.5.2010:
http://www.welt.de/welt_print/debatte/article7574154/Sind-Maennerrechtler-rechts.html
(38) Lucas Schoppe, „Ein Massenmord und seine Verwerter“, in: man tau 10.12.2014:
http://man-tau.blogspot.de/2014/12/ein-massenmord-und-seine-verwerter.html
(39) Günter Buchholz, „Die Allmacht der Frauen“, in: Cuncti 26.7.2012:
http://www.cuncti.net/geschlechterdebatte/339-die-allmacht-der-frauen
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